von Georg Gremels, Pastor in Hermannsburg
Jedes Pfingstfest ergreift mich von neuem eine gewisse Ratlosigkeit: Ich kann
mir den Heiligen Geist einfach nicht vorstellen. Bei Jesus steht mir
sogleich ein Bild vor Augen: ein Mann mit sanftem Blick, klarem Profil
und warmer Ausstrahlung. Viele Bilder habe ich schon von ihm gesehen,
ob in Kinderbibeln oder Jesusfilmen. Doch, wie er aussah, kann ich mir
gut vorstellen.
GOTT DER VATER – EIN GÜTIGER MANN
Auch
wenn ich an Gott als Vater denke, formt sich in mir bald ein Bild von
ihm: ein kö- niglich thronender, gütiger Mann, der sich über den Himmelsrand beugt und auf die Erde herabsieht. So haben ihn auch viele
Maler dargestellt. Einer von ihnen ist Michelan- gelo, der die
eindrucksvolle Schöpfergestalt in der Sixtini- schen Kapelle in Rom
geschaffen hat. Da strecken Gott und Adam einander ihre Hände
entgegen. So oder so ähnlich kann auch ich mir Gott als Vater
vorstellen.
Doch der Heilige Geist? Beim besten Willen, nein, da sehe
ich kein Bild vor mir. Immer wie- der habe ich gerätselt. Wie kommt
das? Bis mir einfiel. Es ist ganz einfach! Ein Geist ist immer
unsichtbar. Das gehört zu seinem Wesen. Ein Beispiel: Wie oft ich mich
auch im Spiegel betrachte, kann ich doch nichts von meinem inneren Ich
und seinen Gedanken, wohl aber viel von meinem äußeren Ich sehen.
Alles, was in mir drinnen vorgeht, bleibt als geistige Wirklichkeit
unsichtbar.
GEIST IST WIE DER WIND, DER BLÄST
Dem
suchenden und fragen- den Nikodemus erzählt Jesus daher ein Gleichnis
für den Geist Gottes. Der Geist sei wie der Wind, der „bläst, wo er
will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er
kommt und wohin er fährt.“ Bis heute ist das so. Wir sehen, wie der
Wind Wolken vor sich hertreibt. Wir sehen, wie sich die Bäume in ihm
wiegen und biegen. Aber ihn selbst, den Beweger, sehen wir nicht! Genauso wenig können wir den Heiligen Geist sehen.
Wie kann
dann das Unsichtbare sichtbar gemacht werden? Durch Symbole! Es ist
ein Vorrecht der Kunst, mit ihnen das zu versinnbildlichen, was nicht
zu sehen ist. Damit bin ich bei dem Pfingstbild von Karola Onken in
der Mitte der heutigen Seite. Ich will es genauer betrachten und
fragen, was es mir über das Geheimnis des Geistes verrät.
FEURIGER VOGEL ALS SYMBOL DES GEISTES
Unübersehbar
springt mir als erstes der überdimensionale feurige Vogel ins Auge,
der aus der Höhe zwischen die Menschen fährt. Warum ausge- rechnet ein
Vogel? Wieder werde ich auf Unsichtbares gestoßen. Vögel bewegen
sich in der Luft und werden so zu Symbolen des unsichtbaren Geistes.
Doch was für ein Vogel ist hier dargestellt? Mag sein, dass einige
sofort eine Antwort darauf haben und denken, dass dieser Feuervogel nur
eine Taube sein könne. Steht doch in der Bibel, dass bei der Taufe von
Jesus der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auf ihn herabkommt.
Aber
passt die Gestalt einer Taube zur Macht und Gewalt dieses Feuervogels,
wie ihn Karola Onken gemalt hat? In der Bibel taucht noch ein anderer
Vogel häufig auf: der Adler! Ich frage mich also: War- um kann es
kein Adler sein? Er ist doch der König der Lüfte und symbolisiert den
Geist der Macht. Deswegen wurden Adler zu allen Zeiten und bei vielen Völkern zu Symbolen der Könige und Regenten erwählt. Jeder, der
sein Leben beherr- schen will, braucht den Geist eines Adlers.
Ich
will das an dem Wort greifen verdeutlichen und damit spielen. Der Adler
ist ja der größte aller Greifvögel und hat äußerst scharfe Augen, mit
denen er das, was unter ihm ist, begreift. Und er hat scharfe Krallen,
mit denen er dann ergreift, was er ausgespäht hat. Er steht somit
für den Geist, der etwas in den Griff bekommt. Der Geist des Adlers
ist der Geist des herrschenden Menschen, der Geist des Wissens und der
Wissenschaft.
WAS ICH BEGREIFE, KANN ICH IN DEN GRIFF BEKOMMEN
Was
immer ich begreife, kann ich auch ergreifen und so in den Griff
bekommen. Für diesen Geist des Begreifens und Ergreifens steht der
Adler als herrschaftliches Symbol. Deswegen findet er sich auf so vielen
Wappen. Und deswegen ziert er auch das Wappen der Bundesrepublik und
hängt weithin sichtbar im Plenarsaal des Bundestages. Er soll doch
sagen: Hier wird im Geist des Adlers regiert!
Doch der
Geist Gottes hat sich nicht als Adler offenbart. Jesus ist auch nicht
als machtvoller König und Messias aufgetreten, sehr zur Enttäu-
schung vieler. Seine Macht war von ganz anderer, sanfterer Art. Deswegen
offenbart sich Gottes Geist in Gestalt einer Taube. Sie ist ein uraltes
Symbol vieler Völker für eine andere, aber genauso grundlegende
Macht des Geistes. Sie symbolisiert den Geist der Liebe und des Friedens.
Also
kann doch der Feuervogel nur eine Taube sein. Erstmals wird die Taube
in der Bibel am Ende der Sintflut erwähnt. Als Noah sich noch in
seinem Schiff, der Arche, vor den Fluten schützte, schickte er eine
Taube aus. Sie sollte festzustellen, ob die Wasser schon zurückgegangen
seien und kam mit einem Ölzweig im Schnabel wieder. Die Sintflut hatte
sich also verlaufen. Seit den Schrecken des dreißigjährigen Krieges
wurde diese Tau- be mit dem Ölzweig im Schnabel zum Zeichen des
Friedens. Vielfach ist sie so seither auf Münzen, in der Kunst und in
Symbolen abgebildet.
Karola Onken hat eine Taube aus vielen Feuerflammen ge- staltet. Das hat biblische Wurzeln. Der Heilige Geist legte sich – so berichtet der Evange- list Lukas – wie Feuerflammen auf die Häupter der Jünger Jesu. Wofür steht das Feuer in der Pfingstgeschichte? Es begeistert, entzündet die Herzen und schafft trotz verschiedener Sprachen, dass die Menschen einander verstehen. Für mich ist dieser Geist des Feuers der Geist der Liebe, die scheinbar Unmögliches möglich macht. Sie vereint, was so leicht in einen Gegensatz gerät: arm und reich, hoch und niedrig, alt und jung, stark und schwach, Mann und Frau. Indem sie mit ihrem Feuer das Gegensätzliche zusammenschweißt, schafft sie Einheit und Verstehen.
ALLE STREBEN ZUM FEUER
Mir fällt auf dem Bild von Karola Onken der Kontrast zwischen den leuchtenden Farben des Feuervogels und den gedeckten der Menschen auf. Sie alle streben zum Feuer, als wollten sie sich entzünden lassen. Wo das Feuer der Liebe, der Geist der Liebe wirkt, da wird es unter uns Menschen wärmer, wie an den Rottönen rechts unten auf dem Bild zu sehen ist.
So manches Symbol fällt mir dort ins Auge. Der Fisch als Zeichen der Christen, der Kirchturm mit dem Hahn, der an den Verrat des Petrus erin- nert. Und schließlich ein Würdenträger mit einem Krumm- stab ganz rechts auf dem Bild. Doch geht er in die falsche Richtung, weg vom Feuer. Will die Malerin damit andeuten, dass nicht alles, was Kirche ist, vom Geist der Liebe bestimmt wird?
Rechts sieht man ganz unten einige, bei denen sich Feuer- flammen auf ihre Köpfe setzen, wie es die Pfingstgeschichte des Lukas beschreibt. So will der Geist der Liebe alle Menschen entzünden, sie mitreißen und ihr Leben warm und leuchtend machen. Deswegen heißt es in einem alten Gebet der Kirche: „Veni Creator spiritus – komm, du Schöpfergeist!“.
ZU PFINGSTEN LIEBE NEU ENTDECKEN
Wir alle regieren mit dem Geist des Adlers unser Leben. Das ist die eine Seite. Doch Pfingsten erinnert uns an die andere Seite, dass wir uns vom Geist der Taube anstecken lassen und die Liebe neu entde- cken oder wiederentdecken. Das kann ganz einfach mit einem versöhnenden Wort zu einem mir nahen Menschen beginnen. Es kann auch mit einer kleinen Überraschung durch eine unerwartete Freundlichkeit passieren. Oder durch die überwältigende Kraft des Frühlings, der mir in der aufblühenden Natur begegnet. Darin liegen Spuren, die zu dem Geist hinführen, der unsichtbar ist und doch al- les Sichtbare belebt und ent- zündet: dem Geist der Liebe, die Gott selbst ist.